Interviewreihe "Barrierefreiheit im autonomen On-Demand-Verkehr", Teil 1: Blinde und seheingeschränkte Personen

Interviewreihe „Barrierefreiheit im autonomen On-Demand-Verkehr“ – Teil 1: Blinde und seheingeschränkte Personen

ahoi Projekt News | 04.07.2024

Barrierefreiheit ist eines der Fokusthemen im Projekt ahoi. Denn auch mobilitätseingeschränkte Personen, wie beispielsweise Menschen mit Behinderung, Fahrgäste mit Kinderwagen oder Gehhilfen, Kinder sowie Senior*innen, sollen autonome On-Demand-Dienste nutzen können. In unserer Interviewreihe zum Thema „Barrierefreiheit im autonomen On-Demand-Verkehr“ sprechen wir mit mobilitätseingeschränkten Personen über ihre Erfahrungen mit Barrieren im On-Demand-Verkehr und darüber, was es für sie bedeutet, wenn nun die Automatisierung von On-Demand-Verkehren erfolgt. Im ersten Teil geht es um blinde und seheingeschränkte Personen.

André Rabe ist zweiter Vorsitzender des Blinden- und Sehbehindertenvereins Hamburg und selbst von Geburt an vollständig blind. Der Verein unterstützt blinde und seheingeschränkte Menschen und ihre Angehörigen in allen Lebensbereichen. André Rabe vertritt vor allem die Themen Umwelt und Verkehr und setzt sich für die Barrierefreiheit in diesen Bereichen ein. Für seine alltägliche Mobilität nutzt er u. a. On-Demand-Verkehre. Wir trafen André Rabe zum Interview.

André Rabe im Interview – Barrieren im On-Demand-Verkehr

Herr Rabe, Sie setzen sich für die Barrierefreiheit im ÖPNV ein. Welche Barrieren begegnen Ihnen speziell bei der Nutzung von On-Demand-Verkehren in Ihrem Alltag?
André Rabe: Ich nutze fast täglich On-Demand-Verkehre, vor allem, um mir schwierige Wege zu vereinfachen. Da gibt es drei Arten von Barrieren. Zum einen den digitalen Buchungsprozess in der App.

Die zweite Barriere sind die rein physischen Bedingungen, also ins Fahrzeug zu kommen. Der Einstieg ist teilweise ziemlich hoch. Ich muss da den Griff suchen und den Höhenunterschied muss man auch erstmal überwinden. Und dann muss man noch aufpassen, dass man sich nicht den Kopf stößt. Und dann kommt immer die Frage, zumindest als Sehbehinderter oder Blinder, welcher Platz denn frei ist. Man möchte sich ja nicht versehentlich auf jemanden draufsetzen. Manche Fahrer sagen das aktiv aber manche auch nicht.

Die dritte Problematik ist, die richtige Haltestelle und das richtige Fahrzeug zu finden. Die meisten Haltestellen sind für mich nicht erkennbar und oft weiß ich nicht, welches die richtige Straßenseite ist. Bei Adressen mit Hausnummern ist es einfacher, aber es gibt ja auch Haltepunkte ohne Hausnummern, unter einer Brücke zum Beispiel. Da kann man nur raten, welche Seite die richtige ist. Zusätzlich scheinen die Anzeigen auf der App des Fahrers und der des Kunden nicht immer gleich zu sein. Und Ungenauigkeiten von fünf Metern machen da schon etwas aus. Für mich ist ein Auto in einer Entfernung von fünf Metern praktisch nicht vorhanden, wenn es schon da ist. Bei normalen Straßenverhältnissen höre ich das Fahrzeug auch oft nicht, da die Umgebung so laut ist. Und ich sehe auch nicht, welche Nummer oder welcher Name auf dem Fahrzeug steht. Ich bekomme das zwar in der App angezeigt, welches Fahrzeug ich erwarte, aber ob es das Richtige ist, weiß ich erst, wenn ich mit dem Fahrer spreche.

Können Sie die digitalen Barrieren noch genauer beschreiben?
André Rabe: Es hängt immer ein bisschen davon ab, welchen Kenntnisstand man als Nutzer hat. Wenn jemand mit seinem Smartphone umgehen kann, dann ist der wahrscheinlich in der Lage, die App zu installieren. Aber dann gibt es auch die Leute, die erst im hohen Alter erblinden. Eventuell hatten die bis dahin noch kein Smartphone und müssen das komplett neu lernen. Aber selbst für diejenigen, die schon ein Smartphone hatten, ist es eine große Umstellung, mit dem Erblinden klarzukommen.

Und wenn man die App dann installiert hat, dann geht es los, dass ich die jeweiligen Bildschirme erstmal erkunden muss. Was gibt es für Elemente, kann ich da etwas überspringen oder wenn ich etwas überspringe, baue ich mir irgendwelche Fehler ein? Manchmal werden auch durch Updates Schritte verändert und man bekommt es gar nicht mit. Dann sind zum Beispiel Buttons an anderen Stellen oder ganz weg. Dann muss man die App wieder neu erkunden.

Noch ein Punkt ist die Schriftart in vielen Apps. Bei bestimmten Schriften sind die Buchstaben zum Beispiel sehr eng geschrieben. Das können Sehbehinderte nicht gut lesen.

Inwiefern hilft Ihnen in diesen herausfordernden Situationen das Fahrpersonal?
André Rabe: Beim Einsteigen fragen sie schon immer, ob sie helfen sollen. Aber wollen Sie, dass jemand kommt und Ihnen unter den Ellbogen greift? Das will glaube ich kaum jemand.

Beim Ausstieg hatte ich das zum Beispiel schon mal, dass der Fahrer mich zwar freundlich darauf hingewiesen hat, dass es regnet, aber er hat mir leider nicht erzählt, dass genau vor dem Fahrzeug ein Lieferwagen am Straßenrand steht, um den ich herumlaufen muss. Beim Aussteigen könnte der Fahrer darauf achten, was da ist, wo man hintritt.

Oder ich hatte mal einen Fahrer, der hat mich erst mal im Regen herumstehen lassen. Bis ihm dann klar wurde, dass sein Fahrgast vielleicht derjenige mit dem Blindenstock sein könnte. Und dann fragt er mich am Haltepunkt: „Ist es hier recht?“ Und ich antworte: „Weiß ich nicht, kann ich nicht sehen.“ Da fehlt leider manchmal das Verständnis, was das eigentlich bedeutet, wenn man nichts sieht. Aber die meisten Fahrerinnen und Fahrer sind schon sehr aufmerksam.

Automatisierung von On-Demand-Shuttles

Sind Sie bereits in einem autonomen Shuttle, also einem Shuttle ohne Fahrpersonal, gefahren?
André Rabe: Ja, ich bin mal mit einem autonomen Fahrzeug in der Hafencity gefahren und mit einem Fahrzeug des TaBuLa-Projektes in Lauenburg. Die Fahrt in Lauenburg fand ich besonders spannend, auch durch die Höhenunterschiede. Das Bremsen ist schon anders als beim Linienbus aber ich hab mich nie unsicher gefühlt. Ich kann auch der Technik vertrauen. Denn ich muss ja auch dem Fahrer vertrauen, dass er aufmerksam ist und schnell genug reagiert.

Also können Sie sich vorstellen, zukünftig mit autonomen Shuttles zu fahren?
André Rabe: Ja, auf jeden Fall.

Wenn dort dann kein Fahrpersonal mehr an Bord ist, wie wäre das für Sie als blinde Person?
André Rabe: Da ist das Thema, wie einen das Fahrzeug findet oder wie wir einander finden, nochmal wichtiger. Es ist wahrscheinlich gar nicht so leicht, so einer Technik beizubringen, wie sie ihren Fahrgast erkennt, wenn er das Fahrzeug nicht erkennen kann. Und blinde oder seheingeschränkte Menschen kannst du ja auch nicht kenntlich machen. Mit Blindenstock oder Assistenzhund, Rollstuhl, Rollator, das kann man dem Fahrzeug ja vielleicht noch beibringen. Aber eine Sehbehinderung sieht man Menschen oft nicht an.

Barrierefreiheit durch akustische und visuelle Signale

Würden Sie sich wünschen, dass das Fahrzeug akustische Signale sendet, damit man es besser findet?
André Rabe: Es hilft auf jeden Fall, wenn einem die App mitteilt, dass das Fahrzeug da ist und wenn es nur piept, wenn ich auch vor dem richtigen Fahrzeug stehe. Und wenn das Fahrzeug mich erkennen muss und wissen muss, ob ich auch der Richtige bin, der mitfahren soll, könnte es zum Beispiel ein bisschen länger piepen oder lauter.

Wäre es dabei hilfreich, wenn nur das Fahrzeug piept, in das eine seheingeschränkte Person einsteigt, damit es nicht zu Verwechslungen kommt?
André Rabe: Nein. Denn es gibt ja mehr Sehbehinderte als die, die offiziell bekannt sind. Also am besten ist alles, was so allgemein wie möglich funktioniert. Das hat dann auch nicht den Anschein, als wäre es etwas Besonderes.

Wenn man an die seheingeschränkten Personen denkt, könnten auch Lichtsignale sinnvoll sein. Könnte es bei all den Signalen irgendwann zu einem Informationsüberfluss kommen?
André Rabe: Ich denke, es kommt immer darauf an, wie ich die Signale gestalte. Die könnte man ja so gestalten, dass man sie zwar gut hören kann, aber sie eben nur eine bestimmte Info bringen. Und bei der Beleuchtung, um den Einstieg zu markieren, kann man sich ja überlegen, ob es sinnvoller ist, eine durchgehende Beleuchtung zu aktivieren oder ob es etwas Blinkendes sein muss. Ich glaube, da kann man schon Dinge finden, die allen irgendwie helfen. Aber es gibt natürlich auch Menschen, die mit zu vielen Informationen nicht klarkommen.

Sie hatten die Herausforderung angesprochen, einen freien Sitzplatz im Fahrzeug zu finden. Würden Sie sich wünschen, dass der freie Sitz im Fahrzeug piept oder vibriert, um ihn zu finden?
André Rabe: Ja, da gibt es zwei Möglichkeiten. Die einen bevorzugen feste Bereiche. Das wäre dann so wie im Bus. Im Vergleich hat so ein Shuttle ja nur ein paar Plätze, das ist übersichtlicher. Aber klar, man könnte sich da überlegen, ob man mit Akustik arbeitet oder mit Vibration, um es kenntlich zu machen.

Anforderungen an Fahrzeug und App

Wenn Sie nun die Möglichkeit hätten, ein autonomes Fahrzeug nach Ihren Wünschen zu gestalten, welche Eigenschaften hätte es?
André Rabe: Auf jeden Fall muss ich ja gut einsteigen können. Da würde ich mir so etwas wie einen Sprinter vorstellen aber eher ein bisschen tiefer gelegt. Dann hat man weniger Schwierigkeiten in das Fahrzeug zu kommen. Ich wäre auch dafür, dass das Fahrzeug die letzte Lücke zum Bordstein oder zur Haltestelle schließt.

Und dann natürlich, dass die Bedienelemente im Fahrzeug alle gut auffindbar sind. Dass man zum Beispiel eine allgemeine Stelle für bestimmte Informationen nutzt, an der die dann immer zu finden sind. Und dass sie auch als Taster eindeutig erkennbar sind. Und wenn man dann zum Beispiel versehentlich das Licht angeschaltet hat, dann sollte man das auch mitbekommen.

Bei den Sitzen wünschte ich mir, dass die Sitzrichtung eher konventionell rückwärts oder vorwärts gerichtet ist und nicht diese Seitenbänke. Wenn da mehrere Personen nebeneinandersitzen, kommt das Problem hinzu, dass man, wenn man seinen Platz sucht, über anderer Leute Beine stolpert.

Und wie sieht es mit dem Informationsfluss aus?
André Rabe: Da hätte ich zwei Wünsche. Einmal, dass man bei diesem ganzen Thema nicht vergisst, dass es ja immer noch 5 % Menschen ohne digitales Leben gibt. Die sollte man nicht außen vorlassen.

Und es wäre natürlich auch schön, wenn man die Infos auf dem Bildschirm auch als Blinder bekommt. Man könnte sich zum Beispiel mit eigenen Kopfhörern dazuschalten oder auf einen Knopf drücken und sich das dann vorlesen lassen. Wenn einem über den Bildschirm Unterhaltung angeboten wird, dann wäre es natürlich schön, wenn man dann auch etwas über Audio präsentieren könnte.

Wenn Sie zum Abschluss an die Bedienapp für autonome On-Demand-Shuttles denken, wie könnte diese aufgebaut sein, um Ihnen die Nutzung zu erleichtern?
André Rabe: Ganz wichtig ist auf jeden Fall, dass die Haltepunkte eindeutig benannt werden müssten. Zusätzlich wäre die Info hilfreich, wo sich das Fahrzeug gerade befindet. Man wird ja informiert, wie lange es dauert, bis das Fahrzeug da ist. Der Sehende hat aber immer noch diesen Punkt dazu, woran man sieht, wo das Fahrzeug gerade ist.

Und die Informationen, die auch ganz wichtig sind und mir bisher fehlen: Was passiert eigentlich während der Fahrt? Wie viele Personen mitfahren, ob schon jemand drin sitzt, wenn ich einsteige, wer als erstes aussteigt, wie viele Stopps noch kommen und so weiter.

Insgesamt sollte man die App so einfach wie möglich halten oder zum Beispiel auch einfache Sprache verwenden. Und wenn ich mir dann sowieso überlege, die Sprache zu vereinfachen, warum dann nicht für alle? Ich glaube, die wenigsten möchten etwas kompliziert haben.

Vielen Dank für das sehr spannende und aufschlussreiche Gespräch.

Wie auch andere öffentliche Verkehrsmittel, bringen On-Demand-Shuttles Barrieren und Herausforderungen auf unterschiedlichen Ebenen für blinde und seheingeschränkte Personen mit sich. Bei der Automatisierung der Shuttles ist es daher umso wichtiger, Lösungen für bestehende Barrieren zu finden und den Wegfall des Fahrpersonals bestmöglich zu kompensieren. Ein barrierefreier Einstieg, akustische Signale, eine einfach zu bedienende App sowie ein transparenter, akustisch verfügbarer Informationsfluss sind nur einige der Wünsche an barrierefreie On-Demand-Verkehre. Gleichzeitig ist das Vertrauen in autonome Fahrzeuge vorhanden und automatisierte Prozesse sowie die Unabhängigkeit von menschlichem Fahrpersonal bieten Chancen für die Zielgruppe der Blinden und Seheingeschränkten.

Wenn auch Sie mitreden und die Mobilitätswende in Hamburg-Harburg mitgestalten möchten, dann melden Sie sich hier zur Bürgerbeteiligung des Projekts ahoi an.

Header-Bild: v. l. n. r. Yunus Ouarghi (New Mobility Solutions Hamburg, Leitung AG Barrierefreiheit im Projekt ahoi), André Rabe, Karoline Klein (vhh.mobility, Leitung AG Öffentlichkeitsarbeit)

vhh ahoi Logo